Obwohl genügend brauchbare Nachbildungen der ehemaligen Wehrmachtslokomotive am Markt sind, möchte BRAWA auch an der dunklen deutschen Historie mitverdienen und liefert seit Juni 2018 eine Eigenkonstruktion in absehbar vielen Varianten aus.
Auf den ersten Blick entspricht das Modell den hohen Erwartungen, die man heute an BRAWA-Modelle stellt - und vielfach auch bekommt. Bei der Dachgestaltung bin ich mir nicht sicher, ob die Details so stimmig sind, aber ansonsten ist es ein sehr gelungenes Modell mit nur kleinen Schwächen wie Farbtonabweichungen bei roten Plastikteilen und der vorbildbedingt nicht einfachen Anbringung der Frontplatte.
Betrachtet man jedoch das Antriebskonzept, so ist man schon sehr erstaunt. Alle Sachkenntnis über Mechanik und Verschleiß wurde beiseite gelegt. Der Modellbahner erhält ein Modell, dass "vorbildgerecht" nur über die Blindwelle und die Treibstangen angetrieben wird:
Das ist nun jedoch im Modell eine Konstruktion, die man nur als "build to fail", also "konstruiert, um zu scheitern", bezeichnen kann. Das gesamte Drehmoment des Motors wird auf die exzentrisch die Kraft weitergebende Blindwelle übertragen. Lediglich die einfachen, gesteckten Radbolzen und eine simpel gestanzte Pressblechtreibstange geben die Kräfte wiederum exzentrisch über einfache, gesteckte Radbolzen auf die Räder weiter.
Das muss auf Dauer scheitern, denn die Scherkräfte der Treibstange sowie die absehbar zunehmenden Lager- und Seitenspiele aller beteiligten Teile (Stangenlager, Achslager) werden zu einem schnellen Verschleiß führen.
Auf dem Foto oben kann man sehr gut sehen, dass die Stellung der Radbolzen der Radsätze nicht identisch ist (C-Achse). Das zeigt, dass fertigungsbedingt schon zu viel Spiel vorhanden ist - bedingt auch, weil man den zugesagten 36cm-Kreis nur mit viel Spiel befahren kann. Es fehlt also der direkte, spielfreie Kraftschluß zwischen Antriebsritzel und Antriebsrad. Der einseitige Haftreifen auf der A-Achse wird auch seinen Teil zu frühem Schaden mittragen, da er zu den Verkantungen noch intensiv beitragen wird.
Aus gutem Grund haben Hersteller bisher erfolgreich nur solche Treibstangen-Fahrzeuge angeboten, die mindestens zwei direkt von Getriebe angetriebene Achsen aufwiesen und so einen direkten Kraftschluß (oder Reibungsschluß?) Motor-Gleis herstellen. Die Roco/Fleischmann-V36 hat eine direkt angetriebene C-Achse, nicht ideal, aber eben ohne Spiel im Kraftschluß. Hier leiden wohl eher die Plastikradbolzen.
Wer dieses BRAWA-Modell ernsthaft im Anlagenbetrieb einsetzen will, sollte sich Radsätze, Bolzen, Treibstange, Fahrwerksrahmen und Blindwellensätze in ausreichender Zahl als Vorrat anlegen. Zudem sollte man die Radsätze und die Blindwelle auf Rundlauf prüfen - BRAWA hat da wenig Glück mit den Lieferanten. Den Lastausgleich im Dekoder würde ich ebenfalls abschalten.
Da auch bei diesem Modell die Räder wieder schwarzvernickelt statt brüniert sind, berichten einige Nutzer bereits von erheblichen Problemen bei der Stromabnahme. Die Digital-Extra-Ausführung hat einen Pufferkondensator, der allerdings erst im Lauf der Fahrt aufgeladen wird.
Meine Entscheidung für mich deshalb: nicht gekauft.
Bei späteren Angeboten als Gebrauchtmodell ist deshalb, wie bei etlichen BRAWA-Triebfahrzeugen, größte Vorsicht geboten.
Das "Karnickel" BRAWA 98.10 bleibt deshalb auch absehbar leider mein einziges BRAWA-Triebfahrzeug und verschönt als unverzichtbares Standmodell (sogar mit SB-Antrieb und aus Ersatzteilen händisch überarbeiten/entkreischten Antriebsteilen) das Vorfeld des Lokschuppens Hofheim/Ufr. Bisher habe ich im Handel keine gleichmäßig laufende 98.10 gefunden. Der VT62.9 lief im Laden in 5 Exemplaren geprüft ebenfalls mangelhaft. Über die V100 ist anderswo genug geschrieben worden und die Materialprobleme der älteren V320 und der frühen V160 sind auch genügend dokumentiert.
Als Stand- und Schiebemodell ist die Ware leider zu teuer. Hoffen wir, dass die angekündigte V60 dieses Antriebskonzept nicht aufweisen wird. Nach der Vereinfachung des Antriebs der Roco-V60 und der gescheiterten ESU-V60 wäre dies dann wohl das letzte H0-Modell einer V60.
Hinweis in eigener Sache:
Ich schreibe diesen Beitrag nicht als "BRAWA-Bashing" - im Gegenteil, viele Modelle, die BRAWA auf den Markt gebracht hat, sind eine große Bereicherung und manches schöne Vorbild wäre ohne BRAWAs Angebot nie als H0-Modell am Markt erschienen. Durch die besonders aufwendige Detaillierung und gute Maßhaltigkeit setzt BRAWA Standards im Modellbahnbau. Dies wird auch aus weitaus den meisten meiner Äußerungen zu BRAWA-Produkten auf dieser Website deutlich.