Versuch einer Situationsdarstellung ohne spekulative Analyse

Leider haben wir erneut einen Todesfall und etliche, zum Teil schwer letzte Menschen zu beklagen, weil zwei Züge auf einer als gut gesichert geltenden Strecke zusammengestoßen sind.

ORM Ebenhausen-Schaeftlarn February 2022

Es gibt in den Medien viele Spekulationen über die Ursachen, qualifizierte und weniger qualifizierte Beiträge und harsche, oft pauschale und unsachliche Kritik an der Betriebsführung der DB AG. Ich will versuchen, hier Sachinformationen zu geben, die allgemeinverständlich sind. Soweit ich da falsch liege, bitte ich die entsprechenden Experten, mich zu korrigieren.

Ebenhausen-Schaeftlarn 14.02.2022

Dieser sehr schematisierte Situationsplan zeigt die wesentlichen bahntechnischen Einrichtungen: Bahnsteig des Haltepunktes mit Signal, Signalsicherung PZB90 (angedeuted), Weiche und Bahnübergang, Kurve in Richtung München, Signal für den Zug aus München.

Das Unglück ereignete sich unmittelbar am Signal Sig_nord (1A).

Die Regelsituation im Betrieb ist, dass das Signal für den Zug aus Wolfratshausen (Sig_sued [1P1]) ROT zeigt, wenn ein Zug aus München im nächsten Streckenabschnitt fährt. Es gibt keine Anzeichen, dass das nicht funktioniert hat. Es sichert aber auch den Bahnübergang hinter dem Signal und ist abhängig von der Stellung der Weiche.
Das Signal für den Zug aus München (Sig_nord [1A]) sichert die Einfahrt in den Haltenpunkt und den Bahnübergang davor.

Beide Signale sind per PZB90 gesichert, d. h., bei Vorbeifahrt bei ROT wird der Zug automatisch angehalten. Tritt diese Zwangsbremsung ein, so darf der Lokführer (modern: "Triebfahrzeugfuhrer", aber niemals "Zugführer" in dieser Funktion) nicht wieder losfahren, ohne den zuständigen Fahrdienstleiter telefonisch um Freigabe gebeten und diese erhalten zu haben. Damit hat stets ein Dritter die Aufgabe, sich eine Situationsübersicht zu verschaffen und darüber zu entscheiden.

Normalerweise kreuzen sich die Züge, die dafür ja stets ein zweites Gleis benötigen, nicht in Ebenhausen-Schäftlarn, sondern eine Station weiter in Richtung Wolfratshausen. Der Lokführer von Zug 6785 erwartet also nicht routinemäßig hier einen Gegenzug, hat aber zuvor den Gegenzug ausnahmsweise nicht getroffen, müsste also wissen, dass die Zugkreuzung noch aussteht und auch, dass sie hier nunmehr am wahrscheinlichsten ist, denn 6776 aus München hat 10 Minuten Verspätung. Normalerweise informiert der Fdl die Lokführer darüber, es ist so vorgeschrieben.

In der Theorie also ist der Betrieb erkennbar sicher gestaltet.

Weitere Einflussfaktoren:

Die Grenze zwischen den beiden für diesen Streckenbereich zuständigen Fdl ist in der Kurve zwischen Bahnübergang (BÜ) und Signal für die Züge aus München (Sig_nord), also zum Unfallzeitpunkt genau zwischen den beiden Zügen.

Alle Lokführer der S-Bahn München werden auf dieser Strecke ausgebildet, haben also nicht nur die notwendige Streckenkenntnis, sondern in jedem Fall eine intensivere Kenntnis und Erfahrung auf dieser Strecke und mit ihren Abläufen.

Die Sicherungsanlage des Bahnübergangs (Schranke und Lichtsignal), der ja durch die beiden Signale gesichert ist, soll am Unglückstag zumindest zeitweis gestört gewesen sein. Wenn die Sicherungsanlage des Bahnüberganges eine Störung meldet, bleiben die Signale auf ROT. Es gilt als gesichert, dass die Signale auf ROT standen.

Wenn ein gesicherter Bahnübergang eine Störung meldet, muss der Fdl über das weitere Vorgehen entscheiden. Im Regelfall wird er dem Zug, der den BÜ zu kreuzen hat, einen Vorsichtsbefehl erteilen, der vorgibt, dass "auf Sicht gefahren" wird. Der Zug darf dann nur mit Schrittgeschwindigkeit zur Gefahrenstelle fahren, muss dort in den meisten Fällen anhalten und die Überfahrt sichern oder prüfen, ob die Überfahrt sicher möglich ist. Für den Zug aus Wolfratshausen liegt der BÜ beim Halt schon im Sichtbereich, der Zug aus München würde ab dem Signal (Sig_nord) auf Schrittgeschwindigkeit sein, da ja der nächste Gleisabschnitt nicht "sicher" ist. Auch dies ist Routine für Lopkführer. Es ist nicht bekannt, ob zum Zeitpunkt der Zugfahrten der Bahnübergang eine Störung meldete.

Nun die Kernfrage:

Die Signale sind zu betrachten. Es gibt eine grundsätzliche Abhängigkeit zwischen beiden Signalen. Nur eine darf GRÜN zeigen. Das andere ist dann in Grundstellung ROT. Beide Signale können auch gleichzeitig ROT zeigen.

Beide Signale "decken" den Bahnübergang und die Weiche.
Das heißt: Liegt die Weiche falsch, hat der Zug, für den die Weiche falsch liegt, schon alleine deshalb ROT als Signalanzeige. Das Signal lässt sich dann nicht auf GRÜN setzen.
Meldet die Sicherungsanlage des Bahnüberganges eine Störung, sind beide Signale ROT.

Was muss betrieblich geschehen, um dann dennoch den Zugbetrieb möglich zu machen?

Der Lokführer bekommt, wie oben beschrieben, einen Befehl zum Fahren auf Sicht über den BÜ. Dazu muss er jedoch das rote Signal überfahren. Dafür braucht er einen zusätzlichen Befehl. Hat er diesen, so darf er das sperrende Signal überfahren. Die dahinterliegende PZB-Sicherung wird den Zug anhalten. Nun muss er den FDL kontaktieren und die mündliche Freigabe zur Weiterfahrt abwarten. Dies ist ein betrieblich betrachtenswerter Moment, da der Zug aus Wolfratshausen ja Signal, Weiche und Bahnübergang in unmittelbarer Folge zu befahren hat. War die Weiche korrekt gestellt, dann fehlt eine Warnsituation. Das Signal soll laut Ermittlung der Polizei ROT gezeigt haben.

Der Lokführer des Zuges aus München wird dann ebenfalls einen Befehl zum Überfahren des sperrenden Signals und zur vorsichtigen Weiterfahrt bis an den Bahnsteig gehabt haben. Er scheint sehr nahe am Signal gehalten zu haben oder bereits soweit die Fahrt verlangsamt zu haben, dass er knapp noch vor dem Signal zum stehen kam oder aber dort vom Gegenzug getroffen wurde. Es gibt Hinweise, dass er an dieser Stelle vorschriftsmäßig einen der Fdl kontaktiert hat. Es gilt als sicher, dass das Signal ROT zeigte.

Fazit:

Man erkennt, dass bei dieser Situation der Streckensicherung der gestörte Bahnübergang die gesamte Streckensicherung außer Wirkung setzen könnte, wenn der Zugbetrieb aufrechterhalten werden soll, obwohl die Technik und ihre Abhängigkeiten einwandfrei funktionierten. Aber selbst das wird erst dann zum Risiko, wenn Zugkreuzungen wegen Verspätungen an unüblichen, aber dafür eingerichteten Stellen erfolgen.

Aus dieser Betrachtung heraus sieht die Staatsanwaltschaft München 1 zu dem Zeitpunkt, zu dem ich dies schreibe, den Lokführer des Zuges 6785 als tatverdächtig an.

 

© Will Berghoff 17.02.2022